Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Titel der aktuellen Ausgabe des „Spiegel“ lautet: Sind wir sicher?
Es geht um die Verrohung unserer Gesellschaft, die sich in beunruhigenden Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik und nicht zuletzt in einem Gefühl zunehmender Unsicherheit in der Bevölkerung niederschlägt. Soeben wurden in diesem Zusammenhang Ergebnisse einer Umfrage der KZVB zu Gewalt in Praxen veröffentlicht, wonach 73% der Befragten schon einmal beleidigt, bedroht oder körperlich angegriffen wurden. Das sind in der Tat beunruhigende Zahlen.
Man muss also davon ausgehen, dass man selbst irgendwann mit einer Situation, in der man der Aggression eines Patienten ausgesetzt ist, konfrontiert sein könnte.
Die Frage ist, wie verhalte ich mich?
Das ist weniger eine rechtliche Frage als eine der tatsächlichen Handhabung. Juristisch ist es so, dass Sie als Praxisinhaber das Hausrecht innehaben und jede Person ihrer Praxis verweisen können. Dieses Recht können Sie im Übrigen auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einräumen. Das bedeutet, Sie können jeden auffordern, ihre Praxis sofort zu verlassen. Das Problem ist: Wie setzen Sie das durch? Auch hier ist die rein juristische Antwort einfach. Sie dürften das Hausrecht auch mit körperlicher Gewalt durchsetzen, wenn alles Reden nicht hilft. Wollen Sie das tun? Sich auf eine körperliche Auseinandersetzung einlassen? Wohl eher nicht.
In der Regel bedeutet das, dass Sie die Person zunächst auffordern, die Praxis umgehend zu verlassen und dass Sie darauf hinweisen, dass Sie andernfalls die Polizei hinzurufen werden. Es empfiehlt sich, das im Falle eines renitenten Aggressors auch zu tun. Das wird Sie aber womöglich nicht unbedingt sofort entscheidend weiterbringen, sondern ist abhängig davon, wie schnell die Polizeibeamten bei Ihnen vor Ort sind – beziehungsweise ob sie überhaupt kommen.
Da kann durchaus mal eine halbe bis dreiviertel Stunde vergehen und in der Zeit haben sie weiterhin das Problem, der Aggression Herr zu werden. Je nachdem, wen Sie an der Leitung haben, kann es Ihnen passieren, dass dort erst einmal gefragt wird, ob Sie das nicht selbst lösen können. Polizisten erleben solche Situationen leider immer häufiger. Es wird Routine für sie und nicht immer ganz ernst genommen. Solche Situationen sind daher mehr als unschön und es gibt dafür keine perfekte, zuverlässige Lösung, weil eben die Polizei nicht innerhalb von 2 Minuten auf der Matte stehen wird, um das zu bereinigen. Bis zum möglichen Eintreffen der Polizei obliegt das „Krisenmanagement“ demzufolge weiter Ihnen selbst.Solche Situationen sind nun aber nicht im Sinne eines Verhaltensmusters gemäß QM zu regeln. Sie entstehen in der Regel spontan im Arbeitsalltag, in dem man selbst und das gesamte Team mit allerlei anderen Dingen beschäftigt ist. Es ist eine individuelle Reaktion gefragt.
Daher sind folgenden Empfehlungen nur allgemeine Hinweise, in einer solchen Situation reagieren zu können:
- Oberstes Gebot ist es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie sich selbst und eventuell anwesende Patienten nicht in Gefahr eines körperlichen Angriffs zu bringen. Bleiben Sie daher ruhig, aber sehr bestimmt. Bemühen Sie sich um eine Deeskalierung, aber ohne dabei unterwürfig, verängstigt oder aufgeregt zu wirken. Auch wenn es schwer ist, muss man versuchen, die eigene Souveränität zu wahren und auszustrahlen. Je emotionaler man selbst wird, umso mehr feuert das den Aggressor möglicherweise an. Eigene Emotionalität füttert die Aggression des Gegners. Sie ist nur angebracht, wenn man sich zutraut, durch eigenes aggressives Auftreten das Gegenüber einzuschüchtern und einknicken zu lassen. Das wird meist aber eher nicht der richtige Weg sein.
- Versuchen Sie der Person zu vermitteln, dass ihr aggressives Verhalten unnötig ist und zu nichts führen wird.
- Lassen Sie keinesfalls eine Mitarbeiterin, einen Mitarbeiter oder Kollegen allein in dieser Situation. Sorgen sie dafür, dass auf jeden Fall weitere Mitarbeiter zugegen sind und niemand allein mit einer solchen Person umgehen muss. Das ist zum einen im Hinblick auf die Beweislage wichtig, falls sich juristische Verfahren anschließend sollten. Es reduziert zudem die Gefahr der eigenen Gefährdung. Das personelle “Übergewicht” kann helfen, die Person emotional in die Defensive zu bringen, bzw. zu verhindern, dass sich die Aggression ausweitet.
- Machen Sie Ihr Hausrecht geltend und fordern Sie die Person auf, die Praxis umgehend zu verlassen.
- Teilen Sie der Person mit, dass sie die Polizei hinzurufen werden, wenn sie die Praxis nicht umgehend verlässt.
- Bitten Sie dann einen anderen Mitarbeiter oder Kollegen, die Polizei zu rufen. Rufen Sie nicht selbst an, solange die Person noch vor ihnen steht. Sprechen Sie weiter und zeigen Sie Präsenz, während Mitarbeiter/Kollegen die Polizei anrufen.
- Schildern Sie der Polizei möglichst präzise und sachlich die Situation: Straße, Hausnummer, Stockwerk. Aggressive/drohende/gewalttätige Person in Praxis. Geltendmachung des Hausrechts erfolglos. Aggression/Bedrohung/Gewalttätigkeit dauert an. Drohung mit Messer oder anderen Waffen/Gegenständen bitte unbedingt sofort der Polizei mitteilen.
Sobald eine solche Situation beendet ist, sollte der Vorfall von allen beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schriftlich möglichst genau dokumentiert werden. Reden Sie mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über den Vorfall, versuchen Sie in offenem Gespräch Sorgen und Ängste wahrzunehmen und bei der Verarbeitung Hilfe anzubieten.
Es ist zu prüfen, ob ein Hausverbot erteilt wird. Hierzu ist es sicherlich ratsam, sich einen juristischen Beistand zu holen.
Es empfiehlt sich, das Thema „Gewalt in Praxen“ in einer Teambesprechung vorsorglich in das Bewusstsein aller zu holen und Handlungsweisen zu besprechen. Wichtig ist, dass Besonnenheit oberste Maxime sein sollte und sich niemand unnötig in Gefahr bringen darf.
Ich wünsche Ihnen allen, niemals in eine solche Situation hineinzugeraten.
Herzlich,
Ihr / Euer Zsolt Zrinyi