Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Artikel „Systembankrott“ diente der Zustandsbeschreibung des Gesundheitssystems. Das Dilemma, in dem die Gesundheitspolitik seit Jahrzenten steckt, ist dass die wissenschaftlich-technologische Entwicklung von Medizin und Zahnmedizin in Verbindung mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Entwicklungen zu einer deutlichen und exponentiellen Kostenerhöhung im Gesundheitswesen geführt hat.
Gemäß Statistischen Bundesamt lagen die Gesundheitsausgaben 1992 bei 159 Milliarden EURO, im Jahr 2020 bei 440 Milliarden EURO. Dies bedeutet, dass die Gesundheitsausgaben binnen 28 Jahren je Einwohner von 1.981 EURO auf 5.298 EURO gestiegen sind. Dies entspricht einer Steigerung um 167,44%.
Nun kommt die demografische Entwicklung ins Spiel.
Vor dem Hintergrund der sich gleichzeitig verändernden Altersstruktur der Gesellschaft (siehe unten) mit immer weniger Beitragszahlern und immer mehr Beitragsempfängern – und bedingt durch die Überalterung immer kostenintensiveren Beitragsempfängern – ist die Refinanzierung des Systems mittels stabiler Beiträge bereits heute nicht mehr möglich.
Die Folge dieser Entwicklung waren stets sogenannte Strukturreformen. Zwischen 1989 und 2008 wurden insgesamt 14 (in Worten vierzehn) Gesundheitsstrukturreformgesetze verabschiedet. Seither kamen weitere „Reformen“ hinzu, im Wesentlichen stets zu Lasten Leistungserbringer mit dem Ziel der Beitrags- und Leistungsstabilität. Aufgrund dieser Entwicklung wird der Politik das Ausmaß dessen, was uns im Gesundheitswesen und in der Pflege in naher Zukunft erwartet, partiell zumindest immer bewusster. So warnt der Bayerische Gesundheitsminister Holetschek in diesem Zusammenhang vor einer „humanitären Katastrophe“, auf die wir zusteuern.
Man muss kein großer Prophet sein, um nach Summation der genannten Parameter vorauszusagen, dass künftige „Reformen“ zu weiteren Einschnitten auf Seiten der Leistungserbringer führen werden und dass die Zahnmedizin hiervon nicht verschont bleiben wird. Dabei war und ist die Zahnmedizin bis heute kein relevanter Kostentreiber.
Dies soll deshalb Anstoß für einen (notwedigen) berufspolitischen Diskurs sein.
Die völlig irrationale Budgetierung der erst 2021 mit großem Tamtam novellierten PAR-Leistungen, sowie – bitte nicht vergessen – auch der Kieferbruch und konservierend-chirurgischen Leistungen sollten Warnung genug sein, dass unser Berufsstand weder die notwendige Lobby noch die nötige politische Wertschätzung hat. Aus dem Phlegma unseres Berufsstandes lesen Gesundheitspolitiker, dass es in der Zahnmedizin noch reichlich Geld abzuschöpfen gibt.
Daher sollten wir vorsorglich jetzt agieren und nicht erst reagieren, wenn es – wie so oft in der Vergangenheit – zu spät ist.
Dabei muss das Ziel sein, der tendenziell zentralistischen Gesundheitspolitik den Zugriff auf die Honorare zu nehmen oder zumindest zu begrenzen.
Die Neupositionierung muss aus meiner Sicht zweigleisig erfolgen – extern wie intern:
- Extern: Stärkung der Lobby
Es muss eine Kampagne in den Medien wie auch gegenüber der Politik gestartet werden, welche den unbestrittenen, medizinisch und gesundheitsökonomisch bedeutenden Stellenwert der Zahnmedizin hervorheben soll. Insbesondere die präventiven Einflüsse auf verschiedene Bereiche der Medizin müssen hier extrapoliert und akzentuiert werden.
Eine qualitativ hochwertige Zahnmedizin ist unter dem Druck der Kosteneinsparung nicht zu gewährleisten. Sofern die Refinanzierung des Gesundheitssystems nicht über kontinuierlich steigende Beiträge gesichert werden kann, muss es zu Kürzungen und Umschichtungen der Leistungen kommen und nicht zu Budgetierungen der Leistungserbringer. Ein alter Hut, ohne entsprechende Lobby und öffentliche Aufklärung aber nicht umsetzbar.
- Intern: Anpassung an die neuen Fakten
Wir werden nicht umhinkommen, die Zahnmedizin gemäß der sich grundlegend ändernden Bevölkerungspyramide in einem neuen Gesundheitssystem auszurichten. Ich sehe aber gerade darin eine die Notwendigkeit einer Abkehr der prothetisch gewichteten Reparatur-Zahnmedizin. Die wirtschaftlichen Chancen liegen in der Entkopplung des Zahnersatzes aus dem GKV-Gefüge. Gerade wegen der zunehmenden Überalterung und der damit einhergehenden, anzunehmenden Steigerung prothetischer Leistungen wie aber auch parodontologischer Leistungen ist zur Begrenzung der Ausgaben eine Akzentuierung der Prävention vonnöten. Die Anreize für die regelmäßige Teilnahme an der zahnärztlichen Prävention müssen in der Folge weiter gestärkt werden. Es muss der Politik in erster Linie die zukünftige Angriffsfläche Prothetik für weitere, einseitige Budgetierungen ohne Kompensationsmöglichkeiten mittels Zusatzvereinbarungen genommen werden.
Es ist nebenbei auch zu überlegen, den irreführenden Wortgebrauch des „Honorars“ mit dem der „Praxiskosten“ zu ersetzen. Honorar wird im Sinne von Lohn semantisch mit Gewinn assoziiert, was bei den aktuell multiplen, ohne Zutun der Zahnmedizin entstanden Kostenbelastungen nicht nur irreführend, sondern falsch ist. Der deutlich erhöhte betriebswirtschaftliche Geldbedarf ergibt sich aus Inflation, Raumkosten, Energiekosten, Materialkosten und insbesondere angemessenen Personalkosten. Daher sollten wir formal eher von einem Praxiskostenverteilungsmaßstab (PVM) denn von einem Honorarverteilungsmaßstab (HVM) sprechen. Die unzureichenden oder gänzliche fehlenden Honoraranpassungen in BEMA und GOZ haben nicht etwa das Einkommen gesteigert, sondern lediglich die gestiegenen Praxiskosten in Ansätzen kompensiert.
Weitere Diskussionsvorschläge:
Prävention zuerst
Die unstrittigen Errungenschaften der zahnheilkundlichen Prävention (IP, PZR) zur Verbesserung der Volksgesundheit und Verringerung der Kostenbelastung im Gesundheitswesen müssen sich nicht nur im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen wieder finden. Vielmehr müssen diese Leistungen zum Kernpunkt einer neuen Abrechungsordnung werden.
Der Grundgedanke der Solidargemeinschaft, dass nämlich die Stärkeren für die Schwachen einstehen ist vor dem Hintergrund der sich verändernden Bevölkerungspyramide und insbesondere der zunehmenden wirtschaftlichen Schwächung der gesellschaftlichen Mitte nicht mehr haltbar. An der Pflege lässt sich bereits das Scheitern der Solidargemeinschaft beobachten. Es fehlt nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern als Folge jahrzehntelanger politischer Ignoranz und Kurzsichtigkeit insbesondere an Personal. Daher ist die Pflege in vielen Fällen mittlerweile eine private Angelegenheit fernab der Solidarität. Die Solidargemeinschaft kann hier allenfalls künftig durch eine deutliche Erhöhung der Beiträge und einer völligen politischen Neubewertung des Pflegeberufes wieder ins Spiel kommen – was beides unwahrscheinlich erscheint.
Das gleiche gilt für die Gesundheit. Auch diese wird in Zukunft hinsichtlich der Risiken unweigerlich und wesentlich in die Verantwortung des Einzelnen übergehen. Eine gesunde Lebensweise, die Wahrnehmung von Prävention und Vorsorgeuntersuchungen werden Pfeiler einer Neustrukturierung des Gesundheitswesens und die neuen Attribute von Solidarität.
In den abgewandelten Worten Kennedys wird es künftig heißen:
Frage nicht, was die Solidargemeinschaft für dich tun kann, frage, was du für die Solidargemeinschaft tun kannst: lebe gesund und sorge vor.
Da die Zahnmedizin die Prävention schon seit Jahrzehnten erfolgreich kultiviert hat, ist keine Kulturrevolution erforderlich, sondern die Überzeugung von Gesellschaft und Politik.
Die zahnärztliche Kontrolle in Verbindung mit der professionellen Zahnreinigung und Prophylaxe sind das Stellwerk einer zweckmäßigen, wirtschaftlichen und zahnmedizinischen sinnvollen Versorgung. Diese Leistungen müssen von der Solidargemeinschaft getragen werden. Alles weitere obliegt einer freien Behandlungs- und Kostengestaltung zwischen Patienten und Arzt – ohne Zugriff der Politik wie bei der Budgetierung der PAR-Leistungen.
Grundversorgung (Festzuschuss)
Das Prinzip des Festzuschusses hat sich beim Zahnersatz bewährt. Über die Zusatzvereinbarungen besteht die Möglichkeit steigende Praxiskosten individuell und angemessen zu kompensieren. Gleichzeitig hat der Versicherte die Wahl, welche Behandlung in Anspruch genommen wird. Dieses Prinzip sollte auf die Bereiche Kons/Chir, KB übertragen werden. Der Festzuschuss dient einer Grundversorgung, welche die Implementierung moderner medizinischer Verfahren ohne Deckelung zulässt. Gleichzeitig bleibt dem Leistungserbringer die Möglichkeit, Leistungen anzubieten, welche im Rahmen betriebswirtschaftlicher Aspekte eine Grundversorgung ermöglicht, so dass kein Patient ohne Versorgung bleibt.
Auch hier gilt es, einer Bürgerversicherung, die den Handlungsspielraum der freiberuflichen Zahnmedizin weiter beschränken wird, mittels einer Bürgerversorgung zuvor zu kommen.
Hauszahnärztin/Hauszahnarzt
„Ein Investor ist eine Person, die einem Unternehmen Geld zur Verfügung stellt, um damit Gewinne zu erzielen.“
Dies ist die Definition eines Investors. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Investoren und Medizinische Versorgungszentren (MVZ) im Vergleich zur hauszahnärztlichen Betreuung zu einer höheren wirtschaftlichen Belastung der Solidargemeinschaft frühen. Der Glaube, mittels einer rein marktwirtschaftlich orientierten Investoren-Medizin Kosten zu sparen und die Qualität zu sichern hat sich – vorhersagbar – als falsch erwiesen.
Der Investor als Praxisbetreiber steht überdies im diametralen Gegensatz zum Eid des Hippokrates, dem wir Mediziner uns – allen betriebswirtschaftlichen Erfordernissen zum Trotz – verpflichtet haben.
Ziel muss demzufolge sein, die medizinischen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Vorzüge einer kontinuierlichen, persönlichen und vertrauensvollen Betreuung von Patientinnen und Patienten in Hauszahnarztpraxen medial und politisch zu publizieren.
Nur auf Grundlage der hauszahnärztlichen Strukturierung ist im Übrigen auch künftig eine geschlossene, interessenorientierte Berufspolitik möglich.
Vereinfachung der Zusammenarbeit
Zur Stärkung der hausärztlichen Strukturen sollte die Soziierung erleichtert werden. Kolleginnen und Kollegen, die z.B. mit eigenem Patientenstamm eine neue Praxis suchen, sollten die ohne großen formalen Aufwand tun können. Auch hier sollte die Bürokratie verringert werden.
Personal
Ein großes Problem im Gesundheitswesen ist der Personalnotstand. Es ist ein schweres Versäumnis der letzten 30 Jahre, dass die Pflege- und Assistenzberufe nicht gefördert wurden. Das Ergebnis lässt sich im BLZK-Stellenmarkt sehr gut nachlesen. Händeringend werden dort ZFA mit sich überbietenden Löhnen, ausgewogenen Arbeitszeiten, viel Urlaub und sonstigen Vergünstigungen gesucht – nur es fehlt an Personen, die sich überhaupt bewerben. Und dies, weil der Gesetzgeber all das, womit heute Fachpersonal angeworben werden soll, schon vor 30 Jahren hätte fördern müssen. Daher krankt das System in Sachen Fachpersonal analog zur Bevölkerungspyramide daran, dass immer mehr Mitarbeiter in Rente gehen werden und kein Personal von unten nachkommt.
Daher stehen wir derzeit erst am Anfang der Personalnotlage – oder in den Worten des Herrn Holetschek: der humanitären Katastrophe.
Das bedeutet, dass wir gegensteuern müssen. Es muss viel mehr vor Ort in den Schulen für die Assistenzberufe der Zahnmedizin geworben werden. In den Schulen bedeutet auch in Gymnasien. Da der Schlüssel zum Eintritt in das Medizinstudium 1:4 lautet, bleiben je Semester ca. 30.000 Schulabgänger ohne Studienplatz. Ein Großteil dessen möchte die Zeit mit Praktika oder einer Berufsausbildung verbinden. Da ist ein möglicher Ansatz zu finden. Ähnlich dem dualen Studium sollte Gymnasialabgängern eine besonders geförderte Ausbildung in Zahnarztpraxen und Klinken angeboten werden. Denkbar wäre, dass durch den Beginn einer Ausbildung die Wartezeit für das Studium automatisch verkürzt wird. Oder, dass praxisnahe (neue) Fächer, wie zahnärztliche Abrechnung, Recht und Verwaltung für das Studium angerechnet werden können. Die Ausbildung erfolgt hierbei in der Praxis, die Prüfung wird dual von der Körperschaft und der Hochschule abgenommen.
Die Fortbildung des Fachpersonals muss weiter gefördert werden. Um die Zentralisierung der Prävention für die breite Bevölkerung zu ermöglichen, bedarf es mehr Fachpersonal. Der Aufstieg muss erleichtert und finanziell gefördert werden. Denkbar ist, dass die BLZK solche Förderungen über Beiträge finanziert, oder dass Zahnärztinnen und Zahnärzte, die ausbilden, was stets mit Kosten und nicht zu vergessen Fehlzeiten verbunden ist, eine zweckgebundene Prämie erhalten.
Persönliche Anmerkung:
Ich hatte in den letzten drei Jahren 4 Bewerbungen von ZMP, welche sich in der Ausbildung zur DH befanden und prospektiv eine solche Stelle suchten. Nur eine Bewerberin schaffte die Prüfung zur DH, drei hingegen fielen durch. Was nicht etwa am Engagement oder dem Intellekt lag, sondern an Prüfungsangst und Pech. Das Problem hierbei ist, dass bei den hohen Ausbildungskosten ein Jahr bis zur Nachprüfung gewartet werden muss, ein Jahr, das bei der Refinanzierung fehlt. Auch da gibt es Anpassungsbedarf.
Theorie und Praxis
Zahnmedizinstudentinnen und -studenten müssen enger in den Praxisbetrieb eingebunden werden. In Rahmen der Hochschulausbildung sollten daher verpflichtende Praxis-Praktika eingeführt werden. Denkbar wären zwei vorklinische und vier klinische Praxis-Praktika á 14 Tage. Hintergrund ist zum einen eine frühzeitige Einführung der Studierenden in den Praxisalltag, mit der Lehre in Fächern wie etwa Praxisorganisation, Gesundheitssystem, Patientenführung, Recht und auch Standespolitik (Es ist vor dem Hintergrund der geringen Wahlbeteiligungen notwendig, frühzeitig ein Verständnis für die Berufspolitik und Selbstverwaltung zu schaffen). Zum anderen wird hier als Nebeneffekt auch eine Entlastung im Personalbereich der niedergelassenen Kollegen und Kollegen erreicht. Nicht unbedingt nur über die Praxis-Praktika, sondern durch den Kontakt auch über sich ergebende bezahlte Praktika in den Semesterferien.
Bürokratie
Fraglos hat die wuchernde Bürokratie in den letzten 30 Jahren enorme Kosten verursacht und zugleich das ärztliche und zahnärztliche Personal zeitlich in erheblichem Maße gebunden. Vieles von dem, was gesetzlich erlassen wurde, hat dem Praxisalltag und nicht zuletzt den Patientinnen und Patienten eher geschadet als genützt. Hier ist eine Entlastung der Praxen und Kliniken zwingend erforderlich, welche von den Körperschaften ausgehen muss.
Künftig wird es nötig sein, auf Grundlage einer stärkeren Lobby und medialen Präsenz Irrwege frühzeitig zu publizieren und über einen öffentlichen Diskurs Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.
Netzwerk
Ziel der Standesvertretung muss sein, dass das Interesse an der Berufspolitik deutlich steigt. Hierfür benötigen wir eine direktere und zeitgemäßere Ansprache aller Kolleginnen und Kollegen. Es sollte in unserer virtuellen Welt möglich sein, eine Plattform zu schaffen, die alle Kolleginnen und Kollegen zum Zwecke der Information unmittelbar vernetzt. Unsere Berufsgruppe ist verhältnismäßig klein und trotzdem fehlt bei einer Wahlbeteiligung von gerade mal 39% die Basis. Diese Basis zu verbreitern, zu erreichen und einzubinden wird ebenfalls eine Aufgabe sein.
Es gibt sicher viele Bereiche, die in diesem Sinne einer Revision bedürfen.
Die Einrichtung einer – optimalerweise standespolitisch übergreifenden – Arbeitsgruppe „Zahnmedizin 2025“ wäre sinnvoll.
Herzliche Grüße
Zsolt