Solokunst –

Die unterschiedlichen Aspekte des Fachkräftemangels

 

Eines der drängendsten Probleme im Gesundheitswesen ist der sich kontinuierlich verschärfende Fachkräftemangel, der sich nun immer öfter in einen chronischen  Personalnotstand zuspitzt. Die Folge dieses Personalnotstands ist, dass medizinische Betriebe nicht mehr in der Lage sind, den Alltag regulär zu bewältigen. Doch ist diese Entwicklung deutlich vielschichtiger und bedrohlicher für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung als vordergründig anzunehmen.

 

Vorab sei gesagt, dass dieses Thema der Politik seit längerem bekannt und offenkundig auch bewusst ist. So reisten immer wieder Gesundheitsminister oder Landesminister nach Albanien, ins Kosovo oder nach Brasilien, um den Mangel zu kompensieren und dort Fachkräfte für die Pflege und das Gesundheitswesen zu gewinnen – mit sehr mäßigem Erfolg. Denn es hat sich auch in diesen Ländern herumgesprochen, dass die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht gerade attraktiv sind, die Bezahlung im Verhältnis zur Arbeit gering und die Abgabenlast hoch. Wozu also die Heimat verlassen – zumal in Ländern wie Albanien das Problem des Personalmangels mittlerweile ebenfalls erkannt worden ist und die Politik vor Ort aktiv gegen die Abwanderung von Fachpersonal gegensteuert. Sie werden dort nämlich gleichfalls benötigt.

 

Die gegenwärtige Situation ist, um es unmissverständlich klar zu stellen, Politikversagen in Reinform. Es war schon vor 25 Jahren abzusehen, wie sich die Bevölkerungspyramide verändern wird und welchen Bedarf es in der Pflege und dem Gesundheitswesen ob der Überalterung künftig geben würde. Politisch geschehen ist unabhängig davon, wer gerade das Gesundheitsministerium inne hatte, absolut nichts. Daran konnte auch der heuchlerische Applaus der Pandemie für sich aufopferndes medizinisches Personal nichts ändern, mit der Folge, dass sich immer mehr Fachkräfte enttäuscht abwenden. Daher wird nun in lächerlichem politischem Aktionismus erfolglos der Globus bereist, statt die Pflege- und Assistenzberufe hier im eigenen Land nachhaltig attraktiver zu machen und zu stärken.

 

Grundsätzlich fehlt es offenbar an politischem Intellekt, um zu verstehen, dass der Fachkräftemangel dem Gesundheitswesen stärker zusetzen wird als fehlende Beiträge. Es ist in den Gesundheitsministerien immer noch nicht angekommen, dass das System geradewegs auf sein Ende zusteuert. Sofern Herr Lauterbach schamlos in aller Öffentlichkeit herumposaunt, dass es Leistungskürzungen nicht geben werde, ist dies der letzte Beweis seiner realitätsfremden Sicht auf Klinken und Praxen in diesem Land.  Die Gegenfrage ist sehr einfach: Wer soll denn die Leistungen künftig erbringen?

 

Es wird immer deutlicher, dass wir Zahnmedizinerinnen und Zahnmediziner künftig regelmäßig ohne Assistenz arbeiten werden müssen. Die zahnmedizinische Fachkraft (ZFA) ist auf dem Arbeitsmarkt vom Aussterben bedroht, die Ausbildung zur ZFA krankt am generellen Mangel aller Ausbildungsberufe, nämlich dem zu geringen Interesse gepaart mit der fehlenden Schnittmenge mit virtuellen Südsee-Swimmingpools, in denen Influencer Schülerinnen und Schülern hierzulande ein Luxusleben vorgaukeln, welches sicher nicht als ZFA zu erreichen ist. Doch was bedeutet das für unsere Praxen in den nächsten Jahren?

 

 

 

Fehlende Fachkräfte werden zu einer Reihe existenzieller Probleme führen:

 

  • Leistungseinschränkungen

 

Bereits weniger komplexe Behandlungen erfordern eine Assistenz, um diese konzentriert und mit der nötigen Sorgfalt erbringen zu können. Behandlungen im Bereich der Molaren können aufgrund morphologischer Gegebenheiten mitunter ohne Assistenz nicht erbracht werden. Chirurgische Interventionen sind ohne Assistenz und mitunter ohne eine Zweitassistenz teilweise nicht möglich.

 

Die Folge des Fachkräftemangels ist daher eine abzusehende Einschränkung zahnmedizinischer Leistungen.

 

  • Längere Behandlungen

 

Zahnmedizinische Leistungen, die ohne Assistenz erbracht werden müssen, dauern länger. Die Vor- und Nachbereitung, die Dokumentation und die Betreuung des Patienten werden ohne Assistenz einen höheren Zeitaufwand erfordern. Längere Behandlungen steigern unter Umständen auch das Behandlungsrisiko.

 

  • Weniger Behandlungen

 

Durch die Leistungseinschränkung und längere Dauer werden weniger Behandlungen erfolgen. Der medizinische Bedarf wird nicht mehr gedeckt werden können. Wartezeiten auf Vorsorge- und Behandlungstermine werden sich deutlich verlängern.

 

  • Honorareinbußen durch 1) – 3)

 

Weniger Behandlungen, weniger komplexe Behandlungen, längere Behandlungsdauer – dies alles führt zu weniger Umsatz und in der Folge weniger Honorar. Es wird eine Anpassung der Honorare bei assistenzlos erbrachten zahnärztlichen Leistungen geben müssen, um die Wirtschaftlichkeit zu wahren.

 

  • Auswirkungen auf die Volksgesundheit individuell und für die Solidargemeinschaft

 

Der Fachkräftemangel wird zu einer Verschlechterung der Zahngesundheit in der Bevölkerung führen. Medizinisch notwendige Leistungen sowie Vorsorge- und Prophylaxeleistungen werden nicht mehr in der gewohnten Quantität erbracht werden können, Wartezeiten auf Termine werden sich signifikant erhöhen. Nicht rechtzeitig erbrachte Leistungen werden zu einer Ausweitung des individuellen Behandlungsbedarfs führen, Parodontale Erkrankungen werden sich aufgrund mangelnder Nachsorge wieder verstärken, was bei Aufrechterhaltung des beitragsgetragenen Systems eine deutliche höhere Belastung der Solidargemeinschaft zur Folge haben wird.

 

  • Juristische Folgen – Der Solokunstfehler

 

Es wird eine neue juristische Bewertung zahnärztlicher Behandlungen geben müssen. Es ist teilweise ein erheblicher Unterschied, ob eine zahnärztliche Leistung mit oder ohne Assistenz erbracht wird. Die Neubewertung beginnt schon vor der Behandlung, da ein Patient mit einem akuten zahnmedizinischen Problem möglicherweise von einer Zahnärztin oder Zahnarzt ohne Assistenz nicht behandelt werden kann. Kommt es in der Folge zu Komplikationen, so besteht die Gefahr der Haftung im Sinne einer Unterlassung. Erfolgt die Behandlung doch, so besteht die Gefahr, dass die Leistung nicht de lege artis erbracht werden kann. Ist so ein „Solokunstfehler“ dann juristisch so zu werten, als sei diese regulär mit Assistenz erbracht worden? Oder bedarf es nicht doch einer Einschränkung der Haftung? Gutachterlich müssen die Umstände einer Behandlung künftig vielleicht neu gewichtet werden.

 

Dies betrifft dann auch die Berufshaftpflichtversicherung. Verträge müssen den Umständen des Fachkräftemangels ggf. angepasst werden.

 

  • Noch stärkere Auswirkungen der Bürokratie

 

Fachkräfte leisten einen erheblichen Anteil an der Bewältigung der mittlerweile völlig unverhältnismäßigen Bürokratie. Sofern es keinen massiven Bürokratieabbau geben wird, muss künftig die Zahnärztin oder der Zahnarzt mehr Arbeitszeit mit der Abarbeitung der Bürokratie verbringen. Die Folge wird noch weniger Zeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten sein, mit weiteren Auswirkungen auf Wartezeiten und Behandlungsquantitäten.

 

  • Fiskale Bewertung von Mehrbehandlerpraxen

 

Wer aus Ermangelung an Fachpersonal zwei Vorbereitungsassistenten beschäftigt, läuft Gefahr, dass die Freiberuflichkeit aberkannt und Gewerbesteuer fällig wird. Der Gesetzgeber muss erkennen, dass in Mehrbehandlerpraxen die Relation von Zahnärztinnen und Zahnärzten zu Fachpersonal als Grundlage für eine fiskale Bewertung sein muss. Es wird in Zukunft immer mehr Praxen geben, in denen sich Zahnärztinnen und Zahnärzte gegenseitig assistieren. Es handelt sich in diesen Fällen dann mitnichten um die Etablierung eines gewerbsmäßigen Klinikbetriebes, sondern um die Konsequenz jahrzehntelanger politischer Ignoranz. Dies sollte nicht – wie üblich – zu einer Mehrbelastung der Praxen führen.

 

Es zeigt sich, dass der Fachkräftemangel eine Reihe von schwerwiegenden Folgen für Praxen und Kliniken und für die Bevölkerung haben wird. Es werden Neubewertungen von Honorar und Haftung erforderlich. Patientinnen und Patienten werden sich an längere Wartezeiten auf Behandlungstermine, längere und umständlichere Behandlungen sowie höhere Kosten einstellen müssen.

 

Es ist müßig darüber zu diskutieren, was wir berufspolitisch tun können, um mehr Fachkräfte zu gewinnen. Wie immer ist dies alles eine Frage der Kosten und wie immer bleiben die deutlichen Mehrkosten für das verbliebene Fachpersonal an den Praxen hängen. Die längst überfällige Anpassung der zahnärztlichen Honorare eben auch unter dem Gesichtspunkt der massiv gestiegenen Personalkosten wurde seit Jahrzehnten versäumt. Im Gegenteil, mit massiven Budgetierungen und völlig realitätsfremden Versprechungen, dass es keine Leistungskürzungen geben werde, werden Praxen und Kliniken weiter unter Druck gesetzt.

 

Der Fachkräftemangel ist kein Problem, das wir mit berufspolitischer Eigeninitiative lösen können. Wir müssen der Politik umfangreich und mit aller Deutlichkeit vor Augen führen, welche Konsequenzen der Fachkräftemangel und der Personalnotstand haben werden. An dieser Stelle sei wiederholt betont: Es bedarf keiner weiteren Reform, sondern einer völligen Neustrukturierung des Gesundheitswesens.

 

Der Präsident des Bundessozialgerichts Rainer Schlegel regte in seinem sehr interessanten Interview in der SZ vom 5./6. August 2023 an, das Gesundheitssystem komplett von einem beitragsfinanzierten zu einem steuerfinanzierten System umzustellen. Es scheint langsam anzukommen, dass es eine grundlegende Anpassung des Systems geben muss.

 

Der Staat muss indessen die medizinischen Fachberufe deutlich subventionieren, attraktiver machen  und aufwerten. Dazu könnten zum Beispiel Steuererleichterungen für medizinisches Fachpersonal, eine 100 Prozentige Fahrtkostenerstattung und steuerliche Anrechnung von Fahrtzeiten, Unterstützung bei der Kinderbetreuung, subventionierte Wohnungssuche und streng geregelte Arbeitszeiten in Kliniken zählen. Nur solche Maßnahmen können auch den Arbeitsmarkt für zahnärztliches Fachpersonal wiederbeleben und dauerhaft die Medizin und Zahnmedizin als Solokunst verhindern.

 

Herzliche Grüße

Euer

Zsolt Zrinyi