Bürokratitis profunda

Nehmen wir den Taktstock endlich in die Hand

 

Schlägt man im Duden die Bedeutung des Wortes „Zahnmedizin“ nach, so heißt es:

„Teilgebiet der Medizin, das sich mit den Erkrankungen der Zähne, des Mundes und der Kiefer sowie mit Kiefer- oder Gebissanomalien befasst“.

Werde ich als niedergelassener Praktiker um eine Erläuterung des Wortes Zahnmedizin gebeten, würde ich es so formulieren:

„Teilgebiet der Bürokratie, das sich mit Anträgen, WP, QM, Digitalisierung, Praxisbegehung, DSGVO, Dokumentation und MDR sowie mit Knebel- und Verwaltungsanomalien befasst.“

 

Führt man sich vor Augen, wieviel Bürokratie unseren Praxen in der letzten 25 Jahren sukzessive aufgebürdet wurde, so wundert es nicht, dass sich als Reaktion darauf eine ebenso pathologische Frustration der Betroffenen entwickelt hat. Nimmt man allein den E-Check, der regelmäßig durchgeführt werden muss und sich auch auf Handy-Ladekabel und Kaffeeschäumer bezieht, so verursacht dieser in einer durchschnittlichen Praxis neben dem Verwaltungsaufwand Kosten im vierstelligen Bereich. Als wäre es an der Tagesordnung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen Stromschlägen ins Krankenhaus eingeliefert würden und Praxen regelmäßig wegen Kurzschlüssen darnieder brennen würden. Der E-Check ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass die Bürokratie keine Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen kennt. Die Bürokratie kenn nur sich selbst, es geht ausschließlich um „l`Bürokratie pour l`Bürokratie“.

 

Der Gesetzgeber hat nicht mal ansatzweise verstanden, dass der Umfang der Bürokratie mittlerweile mehr als nur eine Beschäftigungstherapie für alle Beteiligten im Gesundheitswesen ist:

 

Die Bürokratie ist die größte Behinderung der Medizin und Zahnmedizin in ihrer eigentlichen Aufgabe, der Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Patienten.

 

Die albernen Diskussionen über zu lange Wartezeiten auf Facharzttermine und versiegende Kapazitäten im Gesundheitswesen würden vermutlich deutlich an Dynamik verlieren, wenn wir unsere personellen und finanziellen Ressourcen auf unsere eigentliche Aufgabe konzentrieren könnten. In Anbetracht der massiven personellen Erosion im Gesundheitswesen wird sich in naher Zukunft das Verhältnis von Bürokratie zu Behandlung weiter in Richtung Bürokratie verschieben, denn: Wer soll denn die Bürokratie denn noch abarbeiten? Am Ende sind es ob des Personalmangels die Medizinerinnen und Mediziner sowie Zahnmedizinerinnen und Zahnmediziner selbst. Und der Erkrankte wartet und wartet und wartet und am Ende implodiert das System.

 

Insofern kann man die Bürokratie auch als inhuman und, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in hartem Gegensatz zu dem von und geleisteten Hippokratischen Eid sehen – denn die Bürokratie behindert unseren Dienst am Menschen. Sie ist also im Grunde genommen mit unserer Tätigkeit nicht vereinbar. Zumindest nicht in dem Umfang, der uns derzeit vorgeschrieben ist.

 

Nun will ich nicht nur klagen oder protestieren, sondern im Folgenden Vorschläge machen und den Diskurs anregen. Es ist überfällig, dass wir den Taktstock in die Hand nehmen, konkret werden und Forderungen stellen:

 

1) Grundsätzlich wäre eine partei- und körperschaftsübergreifende „Taskforce Bürokratieabbau“ einzurichten, die prüft, welche bürokratischen Verpflichtungen in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen sind (Beispiel E-Check, Telematik u.ä.). Es müsste eine Liste dieser Pflichten erarbeitet werden, die der Politik vorgelegt wird mit der konkreten Forderung der Beseitigung dieser Bürden.

 

Erfolgt dies nicht, so muss als letztes Mittel durch die Einführung von Bürokratie-Honoraren (Gebührenordnung für Bürokratie in der Medizin und Zahnmedizin, GOBMZ) die Möglichkeit der Abrechnung bürokratiebezogener Tätigkeiten eingeführt werden, so dass jede Praxis und jede Klinik ausreichend Personal einstellen kann, welches sich zur Entlastung ausschließlich – und nicht wie üblich nebenher – um die Bearbeitung der Bürokratie kümmert.

 

2) Desweiteren brauchen wir ein Ende der Antrags- und Kontrollbürokratie. Daher muss die Forderung lauten:

 

Abschaffung der Heil- und Kostenpläne

Abschaffung der KBR-Anträge und PAR-Anträge

Abschaffung aller Planungsgutachten

Abschaffung der Wirtschaftlichkeitsprüfung

 

Im Gegenzug verpflichten sich alle Vertragszahnärztinnen und -zahnärzte, den Patienten Leistungsjournale auf Verlangen auszuhändigen, mit denen jeder prüfen kann, welche Leistungen erbracht und abgerechnet werden. So wird Transparenz und Offenheit geschaffen, die in dieser Form längst überfällig ist. Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die bekannterweise mit erheblichem Aufwand verbunden sind und oft nur geringe Rückerstattungen zur Folge haben, würden sich erübrigen, da die Kontrolle den Versicherten übertragen würde. Dies ist ja nichts völlig Neues, sondern durchaus probat, da bei Privatversicherten immer wieder mal Rechnungen zurücklaufen, die einer Erläuterung bedürfen. Dies ist ein wertvolles Recht der Patientinnen und Patienten und ein bewährtes Mittel zur Wahrung der Transparenz.

 

Schlecht bezahlte, bürokratisch aufwendige und umständliche Planungsgutachten würden sich als Behinderung der Behandlungsabläufe ebenso erübrigen.

 

Hingegen blieben Nachbegutachtungen im Rahmen des KZVB-Gutachterreferates ein wichtiges Mittel der Qualitätssicherung.

 

3) Die Antragsbürokratie muss durch ein Kostenerstattungssystem ersetzt werden. Das Vertragsverhältnis besteht künftig bei Zahnersatz, Kieferbruch und PAR ausschließlich zwischen Arzt und Patient. Der Patient holt sich selbst seinen gesetzlichen Erstattungsbetrag bei der Krankenkasse durch Vorlage der Rechnung als Nachweis der erbrachten Leistung. Fragen nach absurden Bürokratiegeburten, wie, ob es sich um eine „gleichartige oder andersartige Versorgung“ handelt wären überflüssig, da es nur noch um bürokratiebefreite zahnmedizinische Fragestellungen oder schlicht um die „zahnmedizinische Versorgung“ in den Praxen ginge.

 

Genau genommen ist der Kassenanteil einer Zahnersatzbehandlung im Verhältnis zum Verwaltungsaufwand in der gegenwärtigen Antragsbürokratie mittlerweile schlicht unwirtschaftlich, nicht zweckmäßig und somit letztlich auch nicht notwendig – also im klaren Gegensatz zu den Grundsätzen einer Kassenbehandlung.

 

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der Kostenerstattung wäre, dass gesetzlich Versicherte sich z.B. die 90€ für die AIT künftig selbst bei der Krankenkasse abholen müssten und bei der Gelegenheit sicherlich sofort verstehen würden, was Budgetierung eigentlich bedeutet – nämlich das irrlichte staatliche Sparen an der Gesundheit der Versicherten, weil der Politik sonst nichts mehr einfällt.

 

Maßnahmen der Liberalisierung haben nämlich auch stets folgenden Nebeneffekt – dass nicht mehr wir uns während der Behandlungszeit für Budgets und ähnliches rechtfertigen müssen, sondern die Debatten dorthin verlagert werden, wo sie hingehören: in die Büros der gesetzlichen Krankenkassen.

 

Denn auch diese unbezahlten, zeitintensiven Nebentätigkeiten, nämlich die Erläuterung der Gesundheitspolitik und deren Auswirkungen auf den einzelnen, kosten viel Zeit und behindern den täglichen Ablauf in unseren Praxen.

 

Wir sollten uns alle Fragen, warum wir uns diese Auswüchse der Antrags- und Korntollbürokratie noch antun und warum wir unsere wertvolle Zeit dafür hergeben, uns für die miserable Gesundheitspolitik der anderen vor unseren Patienten zu rechtfertigen?

 

Wollen wir alle das weiterhin? Und können wir das unter diesen Umständen alle weiterhin?

 

Ein nachhaltiger Umbau des Gesundheitssystems mit dem Ziel der Versorgungssicherheit kann nur noch durch fundamentale Änderungen gelingen. Es reicht nicht, die Bedeutung der Medizin, Zahnmedizin und Pflege in einer überalternden Gesellschaft mantraartig zu wiederholen. Wir brauchen auch keine rückwärtsgewandte Standespolitik, die aus Angst vor Veränderung sehenden Auges auf den Eisberg weiter zufährt und gezwungenermaßen monatelang versucht, die Budgetierung zu moderieren und zu verwalten. Verstehen Sie dies bitte nicht falsch, unserer Standesvertretung sind in diesem System die Hände und mitunter auch wichtige Valenzen gebunden. Aber gerade deshalb ist die Zeit für eine progressive und befreiende Standespolitik gekommen, welche die Realität in Praxen und Kliniken unmissverständlich beim Namen nennt und Forderungen stellt.

 

Für die Bürokratitis profunda kann die Therapie nur lauten:

 

Die konsequente und unmittelbare Rückabwicklung der Bürokratie auf ein sinnvolles Maß und die Befreiung unseres Berufsstandes von politischen und ideologischen Dogmen. Davor sollten wir keine Angst und keine Sorge haben, denn die Versorgungssicherheit liegt in unseren Händen. Wir brauchen zur Heilung der Erkrankten keine Politiker – die Politik braucht jetzt und insbesondere in naher Zukunft indessen sehr dringend uns, sofern es nicht zu einem Kollaps des Systems kommen soll.

 

Ich wage zu prognostizieren, dass ohne einen substanziellen Bruch mit dem aktuellen System wir in wenigen Jahren nicht vor „englischen Verhältnissen“ warnen, sondern unsere europäischen Nachbarn vor „deutschen Verhältnissen“ warnen werden.

 

Warum?

 

Weil wir mit Abstand das bevölkerungsreichste Land sind und die Demografie das System diktieren wird.

 

Der Politik muss daher mit deutlichen Worten vermittelt werden, dass eine konstruktive Kooperation nicht mehr auf Grundlage von Budgetierungen, Diskussionen über Punktwerte im Bereich der dritten Stelle hinter dem Komma und maligner Bürokratisierung erfolgen kann.

Das ist vorbei.

 

Und auch das sei aus gegebenem Anlass klargestellt: Es geht nicht wie durch Herrn Lauterbach polemisiert um mehr Geld zu Lasten der Beiträge, sondern um in der täglichen Praxis umsetzbare Arbeitsbedingungen und den angemessenen Ausgleich aller erbrachten Leistungen. Und wenn die Beiträge nicht genug hergeben, um Leistungskürzungen und nicht um sozialistischen Therapiezwang zu Lauterbachs Konditionen.

 

Nehmen Sie an diesem Diskurs teil und engagieren Sie sich – im Sinne der Kollegialität und unserer Zukunft.

 

Herzliche Grüße

Euer

Zsolt Zrinyi